Wo liegt die Macht?

„And if power needs an underclass sustained/ Then they'll move blindly forward at the cost the weakest pay“ (L.A. Salami: Systemic Pandemic)

L.A. Salamis viertes Studioalbum Ottoline stellt radikal die Frage nach der Verteilung von Macht im kapitalistischen System – und untermalt existenzielle Anklagen mit vertraut sanftem Folk, erstmals durchzogen von dumpfen Kopfnickerdrums und Snares. Lookman Adekunle Salami, aufgewachsen im Süden Englands, war noch nie der Mann für massigspurige Produktionen, startete erst mit seiner dritten Platte überhaupt mit dem Multitracking. Der daraus resultierende rohe, unmittelbare Klang erklärt sich auch aus Salamis musikalischer Sozialisation: Inspiriert von amerikanischen Folk Musiker*innen der 60er-Jahre à la Bob Dylan und Phil Ochs brachte sich der Multiinstrumentalist zunächst das Spielen auf der Mundharmonika bei. Erst mit 21 Jahren folgte dann die Gitarre – für die zuvor schlichtweg kein Geld da war. Salamis autodidaktische Entwicklung lässt sich in seinen Releases seit 2014 umso besser nachvollziehen. Stets unterlegt vom klassischen Folk-Picking entwickelte sich sein Klang über punkige Anleihen bis hin zu jazzartigen Harmonien, souligen Vocals und Hiphop-Beats auf Ottoline.

Durchgehend bezeichnend ist auch Salamis sensibles, intimes Storytelling, dass sich in knallharten Bestandsaufnahmen manifestiert. Auf der ersten Hälfte Ottolines werden so unter anderem systematische Morde an schwarzen Menschen, faschistoide Systeme, skrupellose Technokraten oder sich selbst reproduzierende, kapitalistische Machtstrukturen schonungslos angeklagt. Gleichzeitig schafft der Brite eine Art doppelten Boden, in dem er jene strukturellen Notstände in seine persönliche Gefühlswelt überführt. Als einzigen Weg zum Ausbruch folgt auf der zweiten Hälfte der Scheibe dann der Apell zum Zusammenhalt und zur Hinwendung zu Freund*innen und Geliebten. Beispielhaft integriert werden die beiden Perspektiven im rund 4-minütigen Track der ersten Albenhälfte „Systemic Pandemic“. Beginnt die Situationsbeschreibung in einem isolierten, schimmligen Schlafzimmer, richtet sich der Blick im Anschluss auf globale Thematiken, um im Chorus schließlich Hilfe bei einer geliebten Person zu suchen. Musikalisch erklingen zum Einstieg Streicher in Sopran- und Altlage, es folgt ein effektbelegtes, glockenspielartig klingendes Piano. Daran anschließend lässt sich die Mundharmonika verorten, bevor der Beat mit dumpfer Bassdrum und Snare einsetzt. Begleitet wird der dynamisch gemäßigte Rhythmus von einer Jazzgitarre, genretypisch für den Jazzrap. Im Laufe des Songs steigen außerdem je eine E- und akustische Gitarre sowie ein Bass mit ausgeklügeltem Melodielauf ein. Der Aufbau von „Systemic Pandemic“ besticht besonders durch den gezielten Einsatz der Instrumente, die stets eigene Themen verfolgen und sich im musikalischen Raum perfekt ergänzen.

Leider verliert Ottoline nach dem mittigen Interlude immer wieder seinen charakteristischen Drive und hält nur mit Mühe die Höraufmerksamkeit. Das mag dem lyrischen Perspektivwechsel von globalen Machtstrukturen hin zu persönlichen Emotionsbeschreibungen verschuldet sein, doch auch musikalisch fehlen schlichtweg Höhepunkte. Fairerweise sollte jedoch betont werden, dass das Ziel Salamis in diesem Album wohl kaum die schockierende Hörerfahrung war – viel eher wirken vor allem die beiden letzten Tracks wie eine zögernde Hinwendung zur friedlichen Ruhe und zum Krafttanken für den weiteren Kampf gegen diskriminierende Weltordnungen. Und wem sei das nicht gegönnt?