Bittersüßes Musical

Es ist fast erstaunlich, dass Webers Naturoper Der Freischütz noch nicht den Weg auf die Seebühne mit ihren spektakulären Bühnenbildern gefunden hat. Vielleicht hat sich bisher niemand getraut, weil das zentrale Handlungselement, der Wald, zu sehr mit dem Bodensee kollidiert, der die Bühne umspült? Oder weil das Opernlibretto von Johann Friedrich Kind mit seinen teilweisen sehr sperrigen Dialogen nicht mehr zeitgemäß ist? Philipp Stölz heißt der Regisseur und Bühnenbildner, dem es 2019 mit Verdis Rigoletto gelungen ist, die intime Handlung mit einem spektakulären Bühnenbild zu verbinden. Für die letzte Saison der Intendanz Elisabeth Sobotka schlug er selbst Webers Schauermärchen vor, und die nach Berlin an die Staatsoper wechselnde Intendantin griff zu.

Zugegeben, beide - Stölzl und Sobotka - gingen mit dieser Entscheidung ein ziemlich großes Risiko ein. Denn Stölzl, der sich bei Rigoletto eng an das Libretto gehalten hat, gibt der Oper ein neues Gesicht - und damit ist nicht das Bühnenbild gemeint. Gemeinsam mit dem Dramaturgen Olaf A. Schmitt und dem Autor Jan Dvořák hat er die Oper auf der Basis von Webers Musik neu arrangiert und zeitlich so gekürzt, dass sie in einer zweistündigen Aufführung ohne Pause auf die Seebühne passt. Für Opern-Puristen ist diese - im wahrsten Sinne des Wortes – Neuinszenierung eine Herausforderung. Die Dialoge sind neu und werden von Ania Marchwinska, Daniel Schober und Atanas Dinvoski auf Cembalo, Kontrabass und Akkordeon begleitet, was stellenweise an einen Dance Macabre erinnert. Die Ouvertüre wird ihres Happy Ends beraubt, ganze Arien werden gestrichen, andere Stücke radikal gekürzt. Das wird nicht überall auf Gegenliebe stoßen. Auch dass mit Ännchen eine lesbische Figur auf der Bühne steht, wird in manchen Kreisen für Schnappatmung sorgen. Statt von einem „schlanken Burschen“ träumt die resolut und sympathisch auftretende Gloria Rehm von einer „schlanken Maid“ und bewegt sich zwischen Tänzer*innen und Fontänen so anmutig durchs Wasser, als sei sie einem Walt Disney-Film entsprungen.

Es ist der einzige helle Moment in einer ansonsten düsteren Moritat. Phillip Stölzl hat mit Franziska Harm ein Bühnenbild geschaffen, das im doppelten Sinne ein Kunstwerk ist. Zum einen ist es ein vom Dreißigjährigen Krieg und einer Flutkatastrophe gebeuteltes, verfallenes Dorf. Aktuelle Bezüge zur Gegenwart drängen sich auf. Zum anderen muss es ein Bühnenbildner erst einmal schaffen, dass die Zuschauer angesichts dieser Winterlandschaft bei knapp 30 Grad frösteln. Eine weitere Augenweide sind die Kostüme von Gesine Völlm, die mit Wams, Mantel und Mieder ein zeitgemäßes Abbild der maroden Dorf-Gesellschaft sind.

Vor allem in der Wolfsschluchtszene schöpft Regisseur Stölzl die Möglichkeiten der Seebühne aus. Unter der Aufsicht von Wendy Hesketh-Ogilvie und Jamie Ogilvie erwecken Stuntmenschen und Taucher*innen zwischen Pyrotechnik und Lichteffekten ein wahres Schauerballett in der Tradition von Game of Thrones und The Walking Dead zum Leben. Da am Ende dieser spektakulären Szene kein Vorhang fallen kann, sorgt Florian Schmitt mit einem einfachen, aber einprägsamen Lichtschnitt für den Übergang zur nächsten Szene, in der Agathe nach einem Albtraum in ihrem Bett erwacht.

Durch die dramaturgischen Veränderungen bekommt auch diese Frauenfigur eine andere Geschichte, die ihr mehr weibliche Tiefe verleiht. Dazu passt auch die sensible Stimmführung von Elissa Huber, deren Sopran ohne technische Verstärkung vielleicht noch reiner und ruhiger klingen würde. Auch Thomas Blondelle ist mit seinem lyrischen Charaktertenor als feingeistiger Antiheld gut besetzt. Sein Max ist entsprechend der Novelle, die Weber zum Freischütz inspirierte, ein Schreiber, dem ein lebensentscheidender, schier unmöglicher Probeschuss abverlangt wird. Das macht ihn empfänglich für die heimtückische Hilfe des Vagabunden Kasper, der ihn zum teuflischen Freischießen verführt. Oliver Zwarg ist mit seinem erzenen Bassbariton und seiner düsteren Bühnenpräsenz der vokale Höhepunkt der Aufführung. Ein Bösewicht wie aus dem Bilderbuch! Auch die Bässe Raimund Nolte als Kuno und Andreas Wolf, der stimmstark die Worte des Eremiten singt, bleiben in Erinnerung.

Vielleicht liegt es auch an der Tontechnik, dass die Chöre, vor allem der berühmte Jägerchor, filigraner und transparenter klingen als sonst. Jedenfalls zeigt auch der Prager Philharmonische Chor seine verletzliche Seite, aber natürlich nur in der Ausstrahlung. Die musikalische Ausarbeitung gelingt dem Klangkörper in der Einstudierung von Lukáš Vasilek und Benjamin Lack sehr gut. Auch wenn die reine Opernmusik deutlich gekürzt wurde, können sowohl Puristen als auch Operneinsteiger der Interpretation von Enrico Mazzola und den Wiener Symphonikern aufmerksam lauschen. Der Dirigent, der wie Stölzl 2019 an der erfolgreichen Rigoletto-Produktion beteiligt war, rückt Webers Leitmotivik in die Nähe von Mozart, Brahms und Schubert. Das Orchester spielt transparent und geschmeidig und ist zugleich der passende Soundtrack zu Stölzls filmischen Bilderstürmen. Diese musikalische Seite kann (und soll) nicht in den Hintergrund gedrängt werden. Umgekehrt würde der Aufführung ohne die Musik etwas fehlen. Was wäre Star Wars ohne die Musik von John Williams? Dasselbe gilt für die Kombination von Stölzls Regie und Mazollas Dirigat.

Last but not least: Das Böse oder wie es bei Weber und Kind heißt: Samiel, der schwarze Jäger. Aus seiner Perspektive wird die ganze Geschichte erzählt. Der erst 26-jährige Niklas Wetzel ist ein bittersüßer Conferencier, der aalglatt durchs Wasser gleitet und auf Bäume und Kirchtürme klettert. In seinem roten Anzug und dem weiß geschminkten Gesicht erinnert er ein wenig an Gustav Gründgen als Mephistopheles. Er kommentiert und lenkt das Geschehen, reist in die Vergangenheit, bietet alternative Enden an. Manche Pointe, die Niklas Wetzel in den Mund gelegt wird, ist einfach zu platt. Aber darüber kann man hinwegsehen, denn der Schauspieler ist das Chili im Wasser dieser Aufführung.

In der Rezeptionsgeschichte des Freischütz wird diese Bregenzer Interpretation ihren Platz einnehmen. Man hätte es sich auch einfach machen und eine ganz traditionelle Aufführung nach Weber/Kind auf die Bühne bringen können. Das wäre sicher auch gelungen. Stattdessen wird die Chance genutzt, der Oper ein modernes Gesicht zu geben und sie weiterzuentwickeln. Natürlich erinnert der Freischütz in dieser Form eher an ein Musical. Aber das ist ein legitimer und vor allem mutiger Ansatz, um das Werk und vor allem seine Aussage über Schuld, Versagensängste, Gut-Böse / Gott-Teufel-Thematik zu durchleuchten. Wie schon bei Rigoletto gelingt es dem Team, den Eventcharakter der Festspiele mit einer nachdenklich stimmenden Interpretation einer Oper zu verbinden. Wenn dann auch noch das Wetter mitspielt, wie bei der besuchten Aufführung Anfang August, und in sicherer Entfernung zur Seebühne bedrohliche Blitze aus schwarzen Wolken zucken, dann stimmt einfach alles. Wobei: Der Applaus für alle an dieser Aufführung Beteiligten hätte noch viel länger ausfallen müssen!

Bittersweet musical

It is almost astonishing that Weber's nature opera Der Freischütz has not yet found its way onto the lake stage with its spectacular stage sets. Perhaps no one has dared to do so because the central plot element, the forest, clashes too much with Lake Constance, which washes around the stage? Or because the opera libretto by Johann Friedrich Kind, with its sometimes very unwieldy dialogue, is no longer in keeping with the times? Philipp Stölz is the director and stage designer who succeeded in combining the intimate plot with a spectacular stage design in 2019 with Verdi's Rigoletto. For the last season of Elisabeth Sobotka's directorship, he himself suggested Weber's fairy tale, and the director, who was moving to the Berlin State Opera, took up the challenge.

Admittedly, both Stölzl and Sobotka were taking a pretty big risk with this decision. Because Stölzl, who stuck closely to the libretto for Rigoletto, is giving the opera a new face - and that doesn't mean the stage design. Together with dramaturge Olaf A. Schmitt and author Jan Dvořák, he has rearranged the opera on the basis of Weber's music and shortened it so that it fits onto the lake stage in a two-hour performance without an interval. For opera purists, this new production is a challenge - in the truest sense of the word. The dialogues are new and are accompanied by Ania Marchwinska, Daniel Schober and Atanas Dinvoski on harpsichord, double bass and accordion, which is reminiscent of a dance macabre in places. The overture is robbed of its happy ending, entire arias are cut, other pieces are radically shortened. This will not meet with universal approval. The fact that Ännchen, a lesbian character, is on stage will also cause gasps in some circles. Instead of a "slender lad", the resolute and likeable Gloria Rehm dreams of a "slender maiden" and moves through the water between dancers and fountains as gracefully as if she had stepped out of a Walt Disney film.

It is the only bright moment in an otherwise gloomy morality play. Phillip Stölzl and Franziska Harm have created a stage set that is a work of art in two senses. On the one hand, it is a dilapidated village that has been ravaged by the Thirty Years' War and a catastrophic flood. Current references to the present are obvious. Secondly, a set designer must first manage to make the audience shiver in the face of this winter landscape at almost 30 degrees. Another feast for the eyes are Gesine Völlm's costumes, which, with their doublets, coats and bodices, are a contemporary reflection of the dilapidated village society.

Director Stölzl utilises the full potential of the lake stage, especially in the Wolf's Glen scene. Under the supervision of Wendy Hesketh-Ogilvie and Jamie Ogilvie, stunt people and divers bring to life a veritable ballet of horror in the tradition of Game of Thrones and The Walking Dead amidst pyrotechnics and lighting effects. As no curtain can fall at the end of this spectacular scene, Florian Schmitt uses a simple but memorable lighting cut to create the transition to the next scene, in which Agathe wakes up in her bed after a nightmare.

The dramaturgical changes also give this female character a different story, giving her more feminine depth. Elissa Huber's sensitive vocal performance also fits in with this, although her soprano would perhaps sound even purer and calmer without technical amplification. Thomas Blondelle is also well cast with his lyrical character tenor as the subtle anti-hero. In keeping with the novella that inspired Weber's Freischütz, his Max is a scribe who is asked to make a life-deciding, almost impossible test shot. This makes him susceptible to the insidious help of the vagabond Kasper, who seduces him into the diabolical free shooting. Oliver Zwarg is the vocal highlight of the performance with his ore bass-baritone and gloomy stage presence. A villain straight out of a picture book! The basses Raimund Nolte as Kuno and Andreas Wolf, who sings the hermit's words with a strong voice, are also memorable.

Perhaps it is also due to the sound engineering that the choruses, especially the famous Jägerchor, sound more delicate and transparent than usual. In any case, the Prague Philharmonic Choir also shows its vulnerable side, but of course only in its charisma. Lukáš Vasilek and Benjamin Lack's rehearsal of the orchestra's musical realisation is very successful. Even though the purely operatic music has been significantly shortened, both purists and opera novices can listen attentively to the interpretation by Enrico Mazzola and the Vienna Symphony Orchestra. The conductor, who, like Stölzl, was involved in the successful Rigoletto production in 2019, brings Weber's leitmotifs closer to Mozart, Brahms and Schubert. The orchestra plays transparently and smoothly and is also the perfect soundtrack to Stölzl's cinematic iconoclasms. This musical side cannot (and should not) be pushed into the background. Conversely, the performance would lack something without the music. What would Star Wars be without the music of John Williams? The same applies to the combination of Stölzl's direction and Mazolla's conducting.

Last but not least: evil, or as Weber and Kind call it: Samiel, the black hunter. The whole story is told from his perspective. Niklas Wetzel, just 26 years old, is a bittersweet emcee who glides through the water as smooth as an eel and climbs trees and church steeples. In his red suit and white-painted face, he is somewhat reminiscent of Gustav Gründgen as Mephistopheles. He comments on and directs the action, travels back in time and offers alternative endings. Some of the punchlines that Niklas Wetzel puts in his mouth are simply too flat. But you can overlook this, because the actor is the chilli in the water of this performance.

This Bregenz interpretation will take its place in the history of Freischütz 's reception. One could have taken the easy way out and staged a very traditional Weber/Kind performance. That would certainly have been a success. Instead, the opportunity has been taken to give the opera a modern face and to develop it further. Of course, Freischütz in this form is more reminiscent of a musical. But this is a legitimate and above all courageous approach to scrutinise the work and above all its message about guilt, fear of failure, good-evil / God-devil themes. As with Rigoletto, the team succeeds in combining the event character of the festival with a thought-provoking interpretation of an opera. When the weather also plays along, as it did during the performance we attended at the beginning of August, and threatening lightning bolts twitch from black clouds at a safe distance from the lake stage, then everything is just right. However, the applause for everyone involved in this performance should have been much longer!

Translation by DeepL