Einheit mit Vielfalt

Es ist selten, dass die ersten Buhs ertönen, noch bevor der erste Ton der Oper erklungen ist. Der Vorhang zur Premiere der "Meistersinger von Nürnberg" hebt sich und im Halbdunkel des Saals steht eine Bühne. Der Vorhang öffnet sich und gibt den Blick auf historisches Videomaterial frei. Ein großes Hakenkreuz an einem Gebäude. In den wenigen Sekunden, in denen es zu sehen ist, gibt es irritierte und wütende Reaktionen. Dann wird das verbotene Symbol der Nationalsozialisten zerstört. Der erste Akkord der Ouvertüre setzt ein, Applaus brandet kurz auf. Regisseur Aron Stiehl gibt das erste Zeichen: Wagners Meistersinger sind vor dem Hintergrund der antisemitischen Haltung des Komponisten und der Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten ein gebrandmarktes Stück, und im Jahr 2024 sind alle aufgefordert, sich zur Demokratie zu bekennen.

Nach diesem Auftakt inszeniert Aron Stiehl das Werk mit viel Tempo und Witz als Gesellschaftskomödie, die gekonnt die Grenze zur Albernheit streift und zugleich nachdenkliche Töne anschlägt. Timo Dentler und Okarina Peter schaffen einen in sich verschachtelten Einheitsbühnenraum, der je nach Situation an Tiefe gewinnt oder verliert. Er erinnert an eine Schulaula der Nachkriegszeit - eine Singschule vielleicht? Eine Aula mit doppelten Eingangstüren auf der einen Seite, auf der anderen eine Empore und am Kopfende die bereits erwähnte Bühne. Die Kostüme von Dentler und Peter schaffen frei nach dem Prinzip Kleider machen Leute eine vielfältige Gesellschaft. Hier gibt es eigentlich alles an Looks und Styles zu sehen, was in der Nachkriegszeit der letzten 50 Jahre „in“ war. Alles wild durcheinander gewürfelt und gleichzeitig liebevoll kombiniert. Das Bild auf der Festwiese bringt das Regieteam ganz nah an das lokale Verständnis des Publikums: Es ist eine Karnevalssitzung.

Chor und Extrachor des Theater Bonn sowie die Lehrbuben dürfen weit über ihre normalen Singzeiten hinaus mitspielen. Im Hintergrund sitzen Menschen zusammen und spielen ein Gesellschaftsspiel, einer ist in ein Reclam-Heft vertieft, ein anderer hört Musik und strickt. Wie Aron Stiehl diesen Ort der Begegnung zum Leben erweckt, ohne die eigentliche Handlung der Oper zu torpedieren, ist preiswürdig. Die Sänger:innen nehmen diese Herausforderung dankbar an und wachsen über sich hinaus. Stimmlicher Spielwitz zeichnet die zehn Lehrbuben aus. Als Individuen gefordert, sind sie mit großem Engagement dabei und finden die gewünschte musikalische Balance. An dieser Stelle ein großes Kompliment an André Kellinghaus und seine Assistentin Ana Craciun für die Einstudierung. Lediglich in der „Prügelfuge“ gerät das Taktgefühl des Chores aus dem Takt. Es macht unglaublich viel Spaß, diesem Chor zuzusehen und zuzuhören, der vom Choral bis zur kraftvollen Fermate alles beherrscht.

Überhaupt: Schauspiel und Musik ergänzen sich kongenial - das muss man bei einer der schwierigsten Opern erwähnen. Mit der ersten Begegnung des Liebespaares Eva und Stolzing beginnt Musiktheater von seiner besten Seite. Anna Princeva macht aus der fremdbestimmten Eva eine Frau mit eigenem Willen, die ihre Emotionen nicht nur mit einer selbstbewussten Körpersprache, sondern vor allem mit wunderschönen, auch in der Höhe immer fein abgerundeten Phrasierungen verkauft. Auch Mirko Roschkowski, der in jedem Moment mitspielt, gibt dem sympathischen Außenseiter Stolzing ein neues Profil. Ein Mann in einem neuen sozialen Umfeld, der sein Herz auf der Zunge und in einer lyrischen Gesangskultur trägt und sich mitreißend für Eva ins Zeug legt. Selten hat diese Figur so zum Mitfiebern eingeladen. Seine Konkurrenz ist durchaus stark: Hätte Wagner dem Beckmesser nicht dieses unsäglich pedantische, aufdringliche Verhalten mitgegeben, wäre der Stadtschreiber in der Gestalt von Joachim Goltz eine Alternative. Der bestens disponierte Bariton liefert eine Charakterstudie par excellence. Jede Silbe, jede Achtelnote, jede Mimik sitzt. Ihm gegenüber steht mit Tobias Schabel ein in sich ruhender Hans Sachs, dessen Monologe von tiefer Nachdenklichkeit erfüllt sind. Obwohl Schabel mit dieser Mammutpartie (noch) an seine Grenzen stößt, gelingt ihm ein großer Premierenerfolg.

Das Finale des zweiten Aktes gerät zum komödiantischen Showdown zwischen Schabel und Golz, in den auch die Harfenistin Johanna Welsch hineingezogen wird. Aron Stiehl weiß mit allen auf der Bühne etwas anzufangen und schafft es, die Spannungen und Konflikte so weit zu steigern, dass plötzlich die demokratiefeindlichen Pappkameraden Putin, Trump, Weidel und Konsorten auf der Hinterbühne auftauchen. An zwei Stellen bricht die Holzvertäfelung auf und darunter kommt der Reichsadler der Nazis zum Vorschein - ein Symbol für die nicht vollständig aufgearbeitete Geschichte des Rechtsextremismus in Deutschland, der derzeit wieder erstarkt. Diese kalte Welt der Extremisten bricht auch bei Sachs' Schlussmonolog in die fröhliche Welt des Karnevals ein. Der Chor huldigt den deutschen Meistern, indem er Schilder mit den großen Vertretern aller Zünfte hochhält. An der Rampe treffen sich derweil Sachs und Beckmesser zum versöhnlichen Handschlag. Einheit mit Vielfalt – besser und sozialkompetenter können die Meistersinger zum Premierentag am Tag der Deutschen Einheit nicht inszeniert werden.

Neben den bereits genannten Hauptfiguren sind auch die anderen Rollen luxuriös besetzt: Manuel Günther spielt den Lehrbuben David nicht nur, er lebt ihn sängerisch grandios aus. Dshamilja Kaiser ist als Magdalene geradezu überbesetzt. Pavel Kudinov gibt dem Veit Pogner einen warm strömenden Bass. Eine weitere Stimme, die aufhorchen lässt: Carl Rumstadt ist als Fritz Kothner ein exzellenter Wortführer der restlichen Meistersinger. 

Dirk Kaftan gibt dem Text mit seinem detailverliebten Dirigat viel Raum. Das Beethoven Orchester Bonn lässt sich diese Gelegenheit nicht entgehen und glänzt mit vielen kleinen Solostimmen in einem üppigen Klangbild. Lediglich bei der Lautstärkebalance zwischen Orchester und Singstimmen muss man Abstriche an einer hervorragenden Interpretation machen. Schon während der Oper spürt man die Begeisterung des Publikums. Der Applaus steigert sich von Akt zu Akt und nimmt schließlich enthusiastische Ausmaße an.

It is rare for the first boos to sound before the first note of the opera has been played. The curtain rises on the premiere of “Die Meistersinger von Nürnberg” and in the semi-darkness of the hall stands a stage. The curtain opens to reveal historical video material. A large swastika on a building. In the few seconds that it can be seen, there are confused and angry reactions. Then the forbidden symbol of the Nazis is destroyed. The first chord of the overture begins, followed by a brief burst of applause. Director Aron Stiehl gives the first sign: Wagner's Meistersinger are a branded piece against the background of the composer's anti-Semitic attitude and the appropriation by the Nazis, and in 2024 everyone is called upon to profess their belief in democracy.
In this production, Aron Stiehl directs the work with a great deal of speed and wit as a social comedy that skillfully crosses the line into silliness while also striking a reflective tone. Timo Dentler and Okarina Peter create a nested unit stage that gains or loses depth depending on the situation. It resembles a post-war school hall – a singing school perhaps? An auditorium with double entrance doors on one side, a gallery on the other and the aforementioned stage at the head end. Dentler and Peter's costumes create a diverse society, loosely based on the principle of “clothes make the man”. You can see practically every look and style that has been “in” during the last 50 years of the post-war period. All of them are wildly mixed up and at the same time lovingly combined. The image on the festival grounds brings the directing team very close to the local understanding of the audience: it is a carnival session.
The choir and extra choir of the Theater Bonn, as well as the apprentice boys, are allowed to perform well beyond their normal singing times. In the background, people are sitting together and playing a board game, one is absorbed in a Reclam booklet, another is listening to music and knitting. The way Aron Stiehl brings this place of encounter to life without undermining the actual plot of the opera is worthy of an award. The singers gratefully accept this challenge and rise above themselves. The ten apprentice singers are characterized by vocal wit. Challenged as individuals, they are fully committed and find the desired musical balance. At this point, a big compliment to André Kellinghaus and his assistant Ana Craciun for the rehearsals. Only in the “Prügelfuge” does the choir's sense of rhythm get out of step. It is incredibly fun to watch and listen to this choir, which masters everything from chorales to powerful fermatas.
In any case, the acting and music complement each other congenially – this must be mentioned in one of the most difficult operas. With the first encounter of the lovers Eva and Stolzing, music theater begins at its best. Anna Princeva transforms the heteronomous Eva into a woman with a mind of her own, who sells her emotions not only with self-confident body language, but above all with beautiful, always finely rounded phrasings, even at the highest levels. Mirko Roschkowski, who is fully involved in the action at every moment, also gives the likeable outsider Stolzing a new profile. A man in a new social environment, who wears his heart on his sleeve and sings with a lyrical vocal culture, and who puts his heart and soul into standing up for Eva. It is rare to see such passionate support for this character. He has some strong competition: if Wagner hadn't given Beckmesser such an unspeakably pedantic and intrusive behavior, the town clerk in the form of Joachim Goltz would be an alternative. The baritone, in top form, delivers a character study par excellence. Every syllable, every eighth note, every facial expression is perfect. Opposite him, Tobias Schabel is a Hans Sachs at peace with himself, whose monologues are filled with deep thoughtfulness. Although Schabel (still) reaches his limits with this mammoth role, he manages a great premiere success.
The finale of the second act turns into a comedic showdown between Schabel and Golz, in which the harpist Johanna Welsch is also drawn in. Aron Stiehl knows how to deal with everyone on stage and manages to increase the tensions and conflicts to such an extent that suddenly the anti-democratic cardboard cutouts Putin, Trump, Weidel and their ilk appear backstage. At two points, the wood paneling breaks open and the Nazi imperial eagle appears underneath – a symbol of the incomplete reckoning with the history of right-wing extremism in Germany, which is currently gaining strength again. This cold world of extremists also breaks into the cheerful world of carnival during Sachs' final monologue. The choir pays homage to the German masters by holding up signs with the great representatives of all guilds. Meanwhile, Sachs and Beckmesser meet at the ramp for a conciliatory handshake. Unity in diversity – the Meistersinger on the day of German Unity could not have been staged in a better or more socially competent way.
In addition to the main characters already mentioned, the other roles are also luxuriously cast: Manuel Günther not only plays the apprentice David, he also lives it out vocally in a magnificent way. Dshamilja Kaiser is almost over-cast as Magdalene. Pavel Kudinov gives Veit Pogner a warmly flowing bass. Another voice that makes you sit up and take notice: Carl Rumstadt is an excellent representative of the master singers as Fritz Kothner.

Dirk Kaftan gives the text a lot of space with his detailed conducting. The Beethoven Orchestra Bonn does not miss this opportunity and shines with many small solo voices in a lush sound. The only thing that detracts from an otherwise outstanding performance is the balance of volume between the orchestra and the voices. The audience's enthusiasm is already palpable during the opera. The applause grows from act to act and finally reaches enthusiastic proportions.