Kritik zu „Falstaff“ am Theater Bielefeld
Falstaff
Giuseppe Verdi
Uraufführung: Mailand 1893
Besuchte Aufführung: Theater Bielefeld, 31.5.2024
Das Ensemble des Theater Bielefeld hat vor der Sommerpause richtig Lust, Verdis letzte Oper auf die Bühne zu bringen.
Pumuckl und die Spießer
„Entsetzlich“… „Fürchterlich“ murmelt ein älteres Ehepaar vor dem Theater Bielefeld. Ihr Dialog findet allerdings vor der dem Theater Bielefeld statt und vor der Premiere von Verdis Falstaff. Das Entsetzen gilt also nicht der Oper, sondern dem Blick der Menschen nach der direkt neben dem Theater aufgebauten Kirmes. Die ist eben eine ganz andere Art von Kultur mit der bassgewaltigen Musik und der sich in schwindelerregenden Höhen drehenden Fahrgeschäften
Vielleicht hatte das Regieteam den Leinewebermarkt samt Kettenkarussell vor Augen, als es sich dazu entschieden hat, das Falstaff in seiner Person als Störenfried des Kleinbürgertums die Bühne anstoßen wird, damit diese sich mal mit oder auch gegen den Uhrzeigersinn dreht. Der Nachteil daran: sie dreht sich in den ersten beiden Akten nahezu unterbrochen, während die anderen Personen alles tun, um sie daran zu hindern. Der Vorteil: Es entsteht eine Personenregie mit vielseitigen Auftritten aus einem Fluss, die Verdis unterhaltungsreicher Oper mehr als nur gerecht wird.
Langeweile kommt bei Regisseur Wolfgang Nägele keine Minute auf. Es gibt keine Person - den Chor eingeschlossen – mit der der Regisseur nichts anfangen kann. Überraschenderweise geht er dem Klischee eines mehrgewichtigen Ritters aus dem Weg, sondern setzt auf die schlanke Figur von Sängerdarsteller Evgueniy Alexiev. Dieser ist mit seinen grauen Locken eher ein gealterter Pumuckl mit fragwürdigem übergriffigem Verhalten, aber auch mit dieser gewissen elektrisierenden Aura. Schon bei einem hinzugedichteten Mini-Prolog tänzelt er pfeifend durch eine erstarrte Langweiler-Party, deren Männer und Frauen später zu seinen Jägern und Jägerinnen wird. Diese eher ungewöhnliche Interpretation ist beim sehr gut disponierten Bariton in den besten Händen, der am Theater Bielefeld schon oft eigene Akzente setzen konnte.
Dick auftragen tun in dieser Inszenierung die Kostüme von Marie-Luise Otto, die gekonnt richtig tief in den Fundus greift, um eine biedere Spießer-Gesellschaft zu erschaffen. Das ist ein genialer Retro-Look, irgendwie hässlich aber auch richtig kreativ. Es dominieren blasse Erdtöne und selten kann der Aussage Beige ist altbacken so eindeutig zugestimmt werden. Auch die Wände des sich auf der Drehbühne wiederholenden Raumes mit eher symbolischer Bedeutung sind von Lisa Däßler pragmatisch eintönig gehalten. Spätestens wenn Mr. Ford in seiner Wut die Tür einschlägt, kann geahnt werden, dass der dritte und vierte Akt nur noch im nackten Gerüst gespielt wird.
Der Eifersuchts-Monolog des Ford ist übrigens der musikalische Höhepunkt des Abends. Todd Boyce führt mit seinem technisch bestens geführten Kavaliersbariton das wirklich beeindruckende Sänger-Ensemble an. Besten Slapstick aber auch feinen vokalen Humor beherrschen die männlichen Nebenrollen: Lorin Wey, Moon Soo Park und Dumitru-Bogdan Sandu sorgen für richtig gute Laune. Mit seinem lyrischen Tenor hebt sich Andrei Skliarenko (Fenton) von den anderen Männerstimmen ab. Dušica Bijelić (Alice Ford) wird der von Verdi zugedachten Rolle der Prima Donna gerecht. Ruth Häde (Meg Page) besitzt trotz weniger Möglichkeiten sich zu profilieren eine in den Ensembles präsente Stimme. Alexandra Ionis singt eine verschmitzte Mrs Quickly. Veronika Lee hat sich krankheitsbedingt ansagen lassen, singt aber trotzdem sehr schön jugendlich-leicht.
Trotz der szenischen Dauerbelastung ist die Abstimmung mit dem Orchestergraben sehr gut gelungen. Alexander Kalajdzic forciert nicht den musikalischen Wahnsinn der Partitur, setzt die Bielefelder Philharmoniker aber teilweise mit sehr viel Kraft ein. Manche Einschläge kommen ein bisschen zu laut und auch in der Intonation zu unpräzise. Die Momente des Innehaltens und werden mit melancholischer Musikalität dargeboten. Der unterhaltsame Opernabend und der Totaleinsatz des Ensembles wird vom Publikum lange beklatscht, das Regieteam bekommt viele Bravo-Rufe. Ein gelungener Abschluss der Saison 23/24. (English below)
Pumuckl and the philistines
"Horrible"... "Terrible" murmurs an elderly couple outside Theater Bielefeld. However, their conversation takes place in front of the Theater Bielefeld and before the premiere of Verdi's Falstaff. So the horror is not directed at the opera, but at the view of the funfair set up right next to the theater. This is a completely different kind of culture, with its bass-pumping music and dizzyingly high rotating rides
Perhaps the production team had the Leinewebermarkt with its chain carousel in mind when they decided that Falstaff, as the troublemaker of the petty bourgeoisie, would push the stage so that it would turn clockwise or anti-clockwise. The disadvantage of this is that in the first two acts it turns almost without interruption, while the other characters do everything they can to prevent it from doing so. The advantage: the result is a character direction with a variety of performances from a single flow that more than does justice to Verdi's entertaining opera.
Director Wolfgang Nägele never lets you get bored for a minute. There is not a single character - including the chorus - with whom the director has nothing to do. Surprisingly, he avoids the cliché of a heavy knight and instead focuses on the slim figure of singer-actor Evgueniy Alexiev. With his grey curls, he is more of an aged Pumuckl with questionably overbearing behavior, but also with a certain electrifying aura. In a mini prologue, he prances whistling through a frozen boredom party, whose men and women later become his hunters and huntresses. This rather unusual interpretation is in the best hands with the very well-disposed baritone, who has often been able to set his own accents at Theater Bielefeld.
The costumes by Marie-Luise Otto, who skilfully digs deep into her collection to create a bourgeois society, are a real eye-catcher in this production. It's an ingenious retro look, somehow ugly but also really creative. Pale earth tones dominate and rarely can the statement beige is old-fashioned be so clearly agreed with. Lisa Däßler has also kept the walls of the room, which is repeated on the revolving stage and has a rather symbolic meaning, pragmatically monotonous. At the latest when Mr. Ford smashes the door in his rage, one can guess that the third and fourth acts will only be performed in bare scaffolding.
Incidentally, Ford's jealous monologue is the musical highlight of the evening. Todd Boyce leads the truly impressive ensemble of singers with his technically superb cavalier baritone. The male supporting roles are capable of the best slapstick as well as fine vocal humor: Lorin Wey, Moon Soo Park and Dumitru-Bogdan Sandu provide really good humor. Andrei Skliarenko (Fenton) stands out from the other male voices with his lyrical tenor. Dušica Bijelić (Alice Ford) does justice to Verdi's intended role of Prima Donna. Ruth Häde (Meg Page) has a voice that is present in the ensembles despite having fewer opportunities to distinguish herself. Alexandra Ionis sings a mischievous Mrs Quickly. Veronika Lee had to be announced due to illness, but still sings in a beautifully youthful and light manner.
Despite the constant scenic strain, the coordination with the orchestra pit is very successful. Alexander Kalajdzic does not force the musical madness of the score, but uses the Bielefeld Philharmonic Orchestra with a great deal of power at times. Some impacts are a little too loud and the intonation too imprecise. The moments of pause are presented with melancholy musicality. The entertaining opera evening and the total commitment of the ensemble are applauded by the audience for a long time and the production team receives many bravos. A successful conclusion to the 23/24 season.
English translation by DeepL.