Im Wald der Einsamkeit

Mozarts Entführung aus dem Serail ist ein problematisches Werk. Dem Deutschen Singspiel in drei Aufzügen (so die offizielle Bezeichnung) misstraut man schon länger und die Regisseure suchen immer wieder aufs Neue, wie man mancher Falle der orientalischen Falschmalerei oder rassistischen wie sexistischen Fehlgriffen entgehen kann. Es ist richtig, dass man im Jahr 2022 kleine, aber sinnvolle Textänderungen vornimmt, die unschöne Wörter elegant umgeht.

Am Theater Bielefeld versucht sich Regisseurin Anna Bernreitner an einer modernen Geschichte, die nicht in einem Serail spielt, sondern in einem Wald. Bühnenbildnerin Eva-Maria van Acker deutet den Lustgarten des Bassa Selim in eine triste Waldlichtung um und hat sich für die dichten Baumkronen bestimmt vom ortsansässigen Teutoburger Wald inspirieren lassen. Die am Theater Bielefeld oft gebrauchte Drehbühne ermöglicht neue Blickwinkel. Aber so atmosphärisch gerade die ersten Minuten im Grünen auch sind, so verlieren Stämme, Zweige und Blätter über die nächsten zwei Stunden ihren Reiz, egal wie viel darin herumgerannt wird.

Von ihren Darstellerinnen und Darstellern verlangt Bernreiter eine durchaus anspruchsvolle, temporeiche Personenführung ab. Die Themen, die sie anspricht, sind durchaus Bestandteil des Originals: Toxische Männlichkeit, Sexismus, Feminismus, die Frage nach der Notwendigkeit der Ehe, Mobbing, Ausgrenzung, Rache… - allerdings werden diese Themen in teilweise neuen Dialogen zu verkopft vorgetragen. Dass die Regie zwischen Metaphern und Geschichte hin- und herpendelt, macht es nicht einfacher.

Die Geschichte, die sie erzählen will, kommt etwas ungelenkig und sperrig daher. Konstanze hat Belmonte am Altar verlassen und ist irgendwie bei einem vereinsamten Bassa Selim gelandet – wie genau bleibt unklar, mal wird von Rettung gesprochen, mal von Flucht. Wieso Pedrillo und Blonde ebenfalls zwischen den Bäumen ihre Beziehung ausloten, bleibt erst recht unklar. Das erste Drittel, die Ankunft Belmontes im Wald, ist sehr Slapstick belastet, das zweite Drittel gelingt dann mit den Auseinandersetzungen von Konstanze – Bassa Selim sowie Blonde – Osmin am überzeugendsten. Die eigentliche Entführung, das letzte Drittel, ist wirklich arg fei erzählt. So gut für ein Werk auch eine neue Dramaturgie sein kann, ist in dieser Sichtweise der tragische Tod des Blondchens eine Dramatik mit der Brechstange, die daher auch recht emotionsfrei verpufft.

Ganz anders dagegen klingt der Mozart aus dem Orchestergraben. Hier werden die Emotionen luftig und transparent von den Bielefeldern Philharmonikern serviert, mal kochen sie richtig hoch, mal stagnieren sie in depressiver Kälte. Dirigent Gregor Rot hat richtig Lust auf die Oper, das sieht man in jeder Geste, mit denen er das gut aufgestellte Orchester vorantreibt. Dass die Abstimmung trotz schneller Tempi und Bewegungsdrang auf der Bühne passt, zeigt eine gute Vorbereitung. Auch gesanglich gerät die Produktion, die kurz vor Saisonende im Sommer ihre Premiere feierte, sehr ordentlich. Das ist bei dem Schwierigkeitsgrad dieser Oper schon beachtlich. Innerhalb kurzer Zeit muss Dimitra Kotidou als Konstanze drei der anspruchsvollsten Stücke aus der Sopran-Literatur singen und das gelingt ihr technisch und emphatisch wirklich außerordentlich gut. Veronika Lee passt die Rolle der Blonde perfekt. Sie überzeugt mit sicheren Höhen, die sie auch verspielt differenzieren kann und mit einer ausgefeilten, ungekünstelten Darbietung.

Der schweren Partie des Belmonte ist Andrei Skliarenko durchaus gewachsen, ist zu lyrischer Wärme fähig, traut sich aber auch immer wieder kernig aufzutrumpfen. Der mit Vollgas auftretende Lorin Wey scheut als Pedrillo ebenso keine Höhen und gewinnt dem sonst oft rein albernen Charakter auch andere, ernstere Seiten ab. Yoshiaki Kimura ist dankenswerter Weise kein polternder Eunuch, sondern ein unglücklicher Charakter mit vokalem Tiefgang. Dass diesem Bassa Selim das Format fehlt, an dem die anderen Figuren wachsen können, ist nicht dem Schauspieler Nikolaj Alexander Brucker anzulasten. Er verkörpert einen ungewöhnlich jungen und depressiven Bassa Selim. Der Bielefelder Opernchor ist in seinen beiden Chören im Orchestergraben positioniert, von den Männerstimmen hört man aber zu wenig.

Dafür hört man viel zu viel von den anwesenden Schulklassen. So gut es auch ist, junge Menschen an die Oper heranzuführen, so sollten sie auch Verständnis dafür haben, dass man sie während der Vorstellung nicht dauerhaft reden hören möchte. Anderseits ist es beim Schlussapplaus vor allem diese Altersklasse, die so richtig Stimmung für die Sänger*innen macht. Und die sind sichtlich überrascht, denn während der Vorstellung gibt es kaum Zwischenapplaus.