Cupido versus Satyr

Was ist Liebe, was ist Begierde? Diese uralte Frage stellt Regisseur Floris Wisser in seiner Neuinszenierung von Mozarts Le nozze di figaro, die Mitte Mai am Aalto Theater Premiere hat. Eigentlich wäre diese schon 2020 Premiere zur Aufführung gekommen, aber da hatte die Corona-Pandemie das Land lahmgelegt. So wird Mozarts vielschichtiges Meisterwerk zur letzten Premiere von Tomáš Netopil in seiner Funktion als GMD des Hauses. Ihm und den Essener Philharmonikern gelingt das kleine Mozartwunder. Mit flüssigen Tempi und einem sehr warmen Timbre in den Instrumenten entsteht eine Wohlfühl-Atmosphäre, die Raum lässt für magische Momente aber auch für dramaturgische Steigerungen wie die beiden großen Finali Akt II und Akt IV, die an diesem Abend vom Allerfeinsten dargeboten werden.

Bei diesen beiden großen Kulminationen der Handlung ist der Einsatz der Drehbühne fast hektisch – das ist das einzige kleine Manko an einem erstklassigen Opernabend, an dem eine Oper lebendig interpretiert aber nicht verzerrt wird. Gideon Davey hat für sein Bühnenbild die Drehbühne geviertelt und in große Räume unterteilt, Melina Rosenbaum hat die Umsetzung der Kulisse realisiert. Das ist ein geniales Bühnenbild, weil diese vier Räume sich über die Länge des Abends immer weiter verändern. Ausgehend von Figaros und Susannas Zimmer erhält das metaphysische Bild des Gartens Einzug in die herrschaftlichen Räume, das Malergerüst verwandelt sich schließlich in eine Laube.

Das ergibt insofern einen Sinn, weil der Regisseur zwei neue Figuren in das Stück eingearbeitet hat. Satyr und Cupido streiten sich um die Gefühle der Protagonisten. James Michael Atkins gleitet auf speziellen High Heels durch das Geschehen, die man sonst nur von Jorge Gonzales aus dem Fernsehen kennt. Das ist eine sportliche Höchstleistung und dazu bringt Atkins auch eine dämonische Präsenz mit. Sein Gegenspieler Cupido hat durch Mick Morris Mehnert eine ganz andere Körpersprache und ist bis auf wenige Ausnahmen fast ein beruhigendes Element der Handlung.  Ihm gehört auch die schönste Geste des Abends: Als Susanna und die Gräfin überlegen, dem Grafen ein Briefchen zu schreiben, fehlt ihnen Stift. Cupido pflückt eine Feder aus seinen Engelsflügeln und legt sie Susanna in die Hand.

Die Präsenz dieser beiden Fabelwesen bringt die Bewohner*innen des Schlosses Almaviva ordentlich ins Schwitzen. Cupido versucht natürlich einerseits die Gräfin in ihrer Liebe zum Grafen am Leben zu erhalten und gleichzeitig auch die junge Liebe von Susanna und Figaro zu unterstützen. Satyr hingegen bringt so manche Begierde zum Vorschein und so landen im zweiten Akt Cherubino, Susanna und die Gräfin zu einem kleinen erotischen Moment im Bett. Selbst wenn die Präsenz von Cupido und Satyr sehr groß ist, würde bis auf wenige Ausnahmen die Inszenierung immer noch funktionieren, wenn man beide Figuren wieder weglassen würde. Denn das Regieteam bürstet die Handlung nicht gegen den Strich, sondern erzählt fast klassisch diese Mischung aus Gesellschaftskomödie und revolutionärem Vorabend. Die Kostüme von Gideon Davey und die Beleuchtung von Malcolm Rippeth sind weitere Garanten für den Augenschmaus.

Vokal weckt die Produktion so manche Erinnerung an die Ära Soltész am Aalto Theater. Aus dem Ensemble heraus gelingt die große Homogenität, die an größeren Häusern viel zu selten hörbar ist. Das beginnt damit, dass ein gestandener Wagner-Recke wie Jeffrey Dowd sich nicht zu schade ist, die kleine Rolle des Don Curzio zu verkörpern. Präsenz ist das Zauberwort in diesem Ensemble, das dem Libretto von Da Ponte die nötige Durchschlagskraft gibt: Sei es Karel Martin Ludvik als Antonio oder auch seine Bühnentochter Barbarina, gesungen von Natalija Radosavljevic. Starke Persönlichkeiten sind auch Andrei Nicoara als fast zu junger Bartolo und Uwe Eikötter, der als sogar seine Eselshaut-Arie singen darf und eine ganz gemeine Interpretation abliefert. Auch Bettina Ranch darf die oft gestrichene Arie der Marcellina singen und befreit die Figur vom jeglichen Fremd-Schäm-Charakter. Miriam Albano verleiht dem Cherubino eine ungewöhnliche Symbiose aus maskulinem Timbre und pubertärem Verhalten.

Als echten Unsympathen legt der energiegeladene Tobias Greenhalgh den Grafen Almaviva an: Herrisch, übergriffig, laut und seine Bitte nach Verzeihung am Ende der Oper klingt eher verschämt als aufrichtig. Baurzhan Anderzhanov ist ein eleganter Figaro mit einer sehr schönen italienischen Phrasierung, der auch das richtige Format hat für die Titelfigur und gleichzeitig als echter Teamplayer in Erscheinung tritt. Bleiben zuletzt die beiden hervorragend besetzten weiblichen Hauptrollen. Markéta Klaudová ist vokal die richtige Partnerin für ihren Figaro auch wegen ihrer natürlichen Bühnenpräsenz. Eine schöne lyrische Stimmführung und angenehm klingende Obertöne sorgen immer wieder für Gänsehaut. Die Gräfin ist mit Jessica Muirhead großartig besetzt, deren emotionaler Gesang bewegt. Sie wird in der dramaturgischen Umsetzung der Oper zu einer Schlüsselfigur und sie hat sowohl die stimmliche als auch die körperliche Präsenz dieser Aufgabe mehr als gerecht zu werden.

Aus ihrer Reaktion im Finale des nie langweiligen Opernabends ergibt sich auch ein sehr ernüchterndes Ende, als die Musik verklungen ist. Dieses Ende lässt das Publikum erst stocken, dann machen sich übersprungsartige Reaktionen bemerkbar. Doch sicherlich wird dieses Ende einigen Zuschauer*innen Magenschmerzen bereitet haben. Zum Glück kommt dann der Moment, wo dieses Gefühl mit Anerkennung für die Leistungen des Abends beiseitegeschoben werden kann. Der Applaus ist lang, begeistert und steigert sich zu stehenden Ovationen. Dieser Figaro ist Oper im besten Sinne, es ist Kultur, es ist Unterhaltung, aber es trifft auch einen Nerv – wenn man es zulässt.

Nächste Saison sind in Essen sowohl Le nozze di figaro als auch die andere Arbeit von Mozart und Da Ponte, Così fan tutte, zu sehen – letztere ebenfalls in einer sehenswerten Inszenierung. Wenn in Essen aktuell Mozart auf diesem Niveau angeboten wird, bleibt nur noch die Frage: Wann kommt Don Giovanni?