Zur Kunst wird der Raum

Die Oper Köln in ihrem Langzeit-Ausweichsquartier, dem Staatenhaus in Köln Deutz, ist in Kulturkreisen eine überregional belächelte Story – um es vorsichtig zu formulieren. Vor Ort ist aber mehr als auffällig, wie sehr sich das gesamte Team vor Ort anstrengt, das Staatenhaus attraktiv zu machen. Sehenswert ist schon am Haupteingang das atmosphärische Kunstwerk, ein Pferd, das aus seiner Silhouette herauszuschreiten scheint. Eine perfekte Werbung für den Saisonauftakt mit Berlioz Mammutepos Les Troyens. Ausgerechnet mit diesem Werk gelingt dem künstlerischen Team eine Symbiose von Raum und Musik, mit der man so nicht rechnen konnte. Denn schließlich ist die Akustik im Saal 1 des Staatenhauses so kalt, dass die Töne über den Köpfen der Zuschauer schier zu gefrieren scheinen.

Vielleicht liegt es daran, dass man mit François-Xavier Roth, Generalmusikdirektor der Oper Köln, einen Experten für Berlioz stehen hat, der schon jahrelange Übung mit den Bedingungen vor Ort hat. Roth geht zusammen mit Gürzenich-Orchester und Chor sowie Zusatzchor der Oper Köln volles Risiko und wagt sich sogar an einen Klang in Dolby Surround, den man sonst nur aus dem Kino kennt. Ferntrompeten hinter Szene, der Chor in wechselnden Einsatzgebieten, mal vor, rechts, links und hinter dem Publikum – das sind immer wieder markante Höhepunkte an einem knapp fünf Stunden langen Abend inklusive zweier Pausen.

Berlioz Werk ist episch, keine Frage, es viele große Tableaus und intime Momente, aber trotzdem ist manche Länge in der Komposition nicht zu leugnen. Diese kleine Not wird zur Tugend, wenn man den Musikern über die ungekürzte Länge zuhören darf. Man darf staunen über die Präzision, mit der die Partitur gemeistert wird. Roths Gestik ist klein, aber die Wirkung ist groß. Mit unfassbar vielen Details wartet das Orchester auf, immer sensibel auf Roths Dirigat reagierend, was eine sängerfreundliche Lautstärke angeht. Ob der warme Klang der Celli, der oft wie eine zusätzliche menschliche Stimme innerhalb der Instrumente heraussticht, oder das immer etwas melancholische Flair der Klarinetten, der stets akkurate Teppich der Geigen, der Zauber der an der Seite positionierten sechs Harfen – die Details sind grenzenlos. Eine solche Leistung live zu erleben ist ein kleines Wunder. Gleiches muss ist über die Sänger*innen des Chores sagen, die ihren umfangreichen Part so konzentriert abliefern und gleichzeitig auch noch engagiert als Akteure in Erscheinung treten. Chorleiter Rustam Samedov und seine Schützlinge treten in der Solo-Applaus-Reihenfolge ganz bewusst und zurecht als letztes auf. Selten genug kann man behaupten, dass der Chor eine Hauptfigur des Werkes ist.

Gleichzeitig ist die solistische Qualität des Abends hoch: Mirko Roschkowski ist zwar „nur“ die Zweitbesetzung des Aeneas, aber das darf man in dieser schweren Partie auch puren Luxus nennen. Seine Stimme bietet Agilität, starke Höhen und schmeichelnde Lyrismen, die ihn gleichzeitig als Anführer wie auch als Liebhaber der Dido qualifizieren. Veronica Simenoni gibt eine kurz vor dem Zusammenbruch stehende Königin der Karthager mit wandelbarem Mezzosopran, deren Höhen der stumpfen Akustik zum Opfer fallen. Die mystischen, verzweifelnden Stimmungen der ungehörten Seherin Cassandre weiß Isabelle Druet mit wunderbarer Emphase und bestens geführter Stimme dem Hörer zu vermitteln. Ihr gemeinsamer Suizid mit dem Frauenchor ist intensives Musiktheater mit Schauercharakter.

Ein kleiner Überblick über den weiteren Besetzungszettel mit fast 30 Namen: Dreifaches Tenorglück, dank Roschkowski und den lyrischen Solobeiträgen von Dmitry Ivanchey und Young Woo Kim. Bariton Insik Choi liefert sich als Chorèbe ein starkes Duett mit Cassandre. Adrianna Bastidas-Gamboa ist mit ihrem wunderbaren, individuellen Timbre als Anna ein Glücksfall. Maike Raschke geht in der kleinen Rolle des Ascagne keinesfalls unter. David Howes und Christoph Seidl sind immer wieder in kurzen Auftritten präsent. Vom Publikum, das dem gesamten Abend bewundernswert ruhig folgt, werden alle Künstler*innen intensiv beklatscht.

Was dieser Besetzung und der gesamten Aufführung fehlt, ist eine konsequente szenische Umsetzung. Vor allem die vielen Kostüme und Bühne von Heike Scheele und die Lichtregie von Andreas Grüter verhindern, dass die Inszenierung von Johannes Erath an eine konzertante Aufführung erinnert. Der sich nahezu immer drehende Bühnenring, in dessen Zentrum das Orchester sitzt, ist als Laufsteg für die Sängerinnen und Sänger einfach zu wenig. Da hätte es etwas mehr Personenführung benötigt als ein paar effektvolle Auf- und Abtritte sowie eine schöne Ästhetik. Tatsächlich muss man das aber nur der Vollständigkeit bemerken, denn dieses Gesamtkunstwerk ist – auch wenn noch von der geschiedenen Intendantin Meyer initiiert – ein starker Auftakt der Intendanz Hein Mulders.