Rarität zum Einstand

Zum Glück gibt es Programmhefte. Denn die Oper Leben des Orest von Ernst Krenek ist nicht mal eben auf Spotify oder YouTube zu finden und in den meisten Fällen auch nicht in dem hauseigenen Opernführer. So kann man sich dank des Programmheftes kurz vor der Premiere am Theater Münster noch in die Handlung einlesen. Auch ein lesenswerter Text steht darin, welche Fragen die neue Intendantin Dr. Katharina Kost-Tolmein und ihr künstlerisches Team bei der Auswahl des Stückes beschäftigt haben: „Wie wird die Generation nach uns leben? Was hat die Generation vor uns hinterlassen?“ Um es vorwegzunehmen: Antworten darauf findet man weder in Kreneks Komposition noch in der Inszenierung der Regisseurin Magdalena Fuchsberger. Aber um Antworten soll und braucht es ja gar nicht immer gehen. Anregungen, wie sich kleinste Details einer Geschichte auf die Zukunft auswirken, findet man in dem Mythos um König Agamemnon, seinen Sohn Orest und den Trojanischen Krieg zu genüge. Bei Krenek ist es dabei eine kleine, weiße Kugel, ein kleinstes Detail. Die Amme von Orest opfert diese Kugel der Göttin Athene, um für den Schutz von Orest zu bitten, und Jahre später wirft ein kleines Mädchen bei der Gerichtsverhandlung um den Mörder Orest diese weiße Kugel in die Wahlurne und ist die ausschlaggebende Stimme: Orest ist frei.

Zugegeben: Moralisch hinterlässt das schon einen bitteren Beigeschmack und das hat auch wohl das Regieteam gespürt. Am Ende werden die Zuschauer selbst aufgefordert, sich ein Urteil zu bilden; die Inszenierung endet an diesem Abend im Theater mit der Kleidung von heute. Schon vorher wandert Orest auf der Leinwand durch das Foyer des Theaters, schaut sogar kurz beim Furien-Tanztheater im Kleinen Haus vorbei. Die Verknüpfung der Sparten scheint ein Ziel der Intendantin zu sein.

Die große Oper im großen Haus ist ein bemerkenswerter Auftakt, vor allem weil es ein selten gespieltes Werk ist. Auch wenn oder gerade weil Krenek am Ende ähnlich wie Mozart oder Lortzing ein Happy End vom Zaun bricht, ist seine Oper alles andere als bequem. Darüber täuschen auch nicht die süffigen Tanzrhythmen der 30jahre hinweg, zu denen der Chor die Choreografie von Alexander Novikov temperamentvoll umsetzen kann. Die Inszenierung von Frau Fuchsberger übt sich im Verbund mit dem Bühnenbild und den Kostümen von Monika Biegler und den Videos von Aaron Kitzig in Symbolik und Zeitlosigkeit. 

Der Sinn ist nicht immer zu erschließen, manchmal wirkt es sogar etwas beliebig und hilflos. Was deutlich wird, ist eben diese Suche nach Antworten auf Fragen, auf die die Antwort schwerfällt. Zum Beispiel eben nach dem Sinn des Lebens. Es ist sicherlich einer der stärksten Momente des Abends, wenn der deutlich artikulierende Johan Hyunbong Choi den Lebenssinn des Orest sucht und die nachdenkliche Facette hinter einer tragikomischen Figur zu Tage fördert, die vorher wie ein zu groß geratendes Kind über die Bühne getapst ist. Der Bariton Choi wird dieser Figur mit markanter Stimme gerecht. Man darf gespannt sein, ob er auch den Orest in Richard Strauss‘ Oper Elektra singen wird, die im Dezember Premiere in Münster haben wird.

Während sich Strauss dort mit der Geschichte um Elektra, Aegisth, Klytämnestra und Orest beinahe zwei Stunden beschäftigt, ist diese Episode bei Krenek nur das 6. Bild im dritten Akt. Diese knappe Erzählstruktur wird von dem gesamten Ensemble sehr konzentriert umgesetzt. Der von Anton Tremmel einstudierte Chor und Extrachor des Theaters wechselt Rollen und Stimmungen im Schnellverfahren. Eine starke Leistung! Auch die Solisten wachsen mit ihren Partien zusammen. Garrie Davislim mimt den schmierigen Intriganten Aegisth mit Bravour und schneidendem Tenor, Brad Cooper holt Stärken und Schwächen des König Agamemnon hervor. Wioletta Hebrowska überzeugt als Klytämnestra. Die eine Tochter Elektra bekommt Margarita Vilsone dramatisches, etwas forciertes Profil. Katharina Sahmland aus dem Opernstudio gibt der anderen Tochter schwebende Leichtigkeit. Auch Robyn Allegra Parton weiß als koloraturgewandte Prinzessin Thamar zu gefallen. Für das Finale ist mit Gregor Dalal als Richter eine raumgreifende, autoritäre Stimme aufgeboten.

Diese und viele weitere kleinere Rollen werden von Generalmusikdirektor Golo Berg bestens mit dem Sinfonieorchester zusammen koordiniert. Das Orchester gleitet mit rhythmischer Präzision durch die verschiedenen Stile, scheut nicht die unbequemen Höreindrücke und bringt genügend Schwung mit für die Chortableaus im Revue-Format. Das Premieren-Publikum honoriert den gesamten Einsatz aller Beteiligten mit kräftigen, aber auch differenzierten Applaus.