Die Entdeckung drei neuer Welten

Boris Blacher Concertante Musik op. 10, Hugo Distler Konzert für Cembalo und Streichorchester op. 14 und Antonín Dvořák Sinfonie Nr. 9 “Sinfonie aus der neuen Welt”, das sind Komponisten und Werke des 6. Sinfoniekonzertes im Stadttheater Münster. Man lehnt sich wohl nicht zu weit aus dem Fenster mit der Behauptung, dass allein der Name Antonín Dvořák die Zuhörer*innen ins Theater gezogen hat. Die Namen Blacher und Distler sind auch für regelmäßige Konzertgänger Neuland. Aber vor allem bekommt man ja schließlich nicht alle Tage die Chance, die 9. Sinfonie “Aus der neuen Welt” des Romantik-Giganten live zu hören. Beim Betreten des Saals kommt einem die Bühne anders, größer aber auch gleichzeitig leerer vor. Die braune Vertäfelung und das Podest der Bläser fehlen. Grund dafür sind die andauernden Tarifverhandlungen zwischen der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger (GDBA) und dem Deutschen Bühnenverein. Die Bühnentechniker streiken für einen fairen Lohn in der Kulturszene. Die Frage, die sich sofort durch den Kopf schließt: Wie wird wohl der Klang darunter leiden? Vor der Pause stehen 2 Werke aus dem frühen 20. Jahrhundert auf dem Programm. Eröffnet wird das Konzert durch die Concertante Musik von Boris Blacher. Das Fagott schwebt allein im Raum, wie ein Blatt, das langsam vom Wind zum Tanzen aufgefordert wird. Mit einem jazzigen Rhythmus kommt es langsam in Schwung und wirbelt die anderen Bläser, die mit in den Tanz einsteigen. Dann setzen die Streicher ein, wie Windstöße wirbeln sie um die Rhythmen der Bläser und reißen die Zuhörer mit in den Sog. Nuanciert und mit präziser Genauigkeit geht es zwischen Streicher und Bläsern im Orchester hin und her. Melodien werden aufgenommen, verarbeitet und zurückgeworfen. Es scheint fast, als ob die beiden Partien miteinander spielen, sich necken und immer wieder sieht man diese im Wind tanzenden Blätter vor dem Auge, getragen von der tänzerischen Melodie in den Bläsern.

Nach diesem eher verspielten Musikwerk geht es mit doch sehr aggressiven aber auch asiatisch klingenden Tönen am Cembalo weiter. Im Konzert für Cembalo und Streichorchester von Hugo Distler vernehmen die Zuhörer*innen Klänge von diesem alten Instrument, die ungewohnt sind. Der metallene Klang wird hier gezielt eingesetzt, um eine musikalische Rage zu erzeugen, hier soll es nicht weich, lieb klingen, sondern aggressiv. Das vor Wut scheinbar glühende Cembalo wird von Vital Julian Frey bespielt. Vital Julian Frey schafft es, das Cembalo, das oft doch sehr eintönig klingt, in grellen neon-Farben über dem schrillen Streicher Kuddelmuddel stehen zu lassen. Begleitet wird das modern-klingende alte Instrument durch ein Streichorchester. Die Musiker*innen an den Streichinstrumenten schrubben im wahrsten Sinne des Wortes ihren Weg durch die dissonante und oft rhythmisch verkantete und verkleisterte Begleitung.

Schon die ersten beiden Stücke wurden faszinierend gut gespielt, aber das Highlight des Abends war in allen Fällen “ die Sinfonie aus der neuen Welt” von Antonín Dvořák. Das merkt man allein schon an Dirigenten und Orchester. Plötzlich bewegt sich nicht nur die Musik durch den Raum. Das erste Mal an diesem Abend kann man große, die Musik umarmende Bewegungen des Dirigenten Golo Berg erkennen. Ja, im 3. Satz kann man sogar kleine Hüpfer der Freude sehen und das steckt an. Die Musiker*innen wippen, fließen regelrecht durch die Melodie. Dvořáks Komposition mit sanften und kraftvollen Klängen geht voll auf. Im ersten Satz kann man diese neue aufregende und flimmernde Welt bildlich vor seinen Augen sehen. Die Vorfreude, Verwunderung, aber auch die unerwarteten Herausforderungen. Durch die gesamte Sinfonie ziehen sich sehr intensive und gut platzierte Akzente in den Streichern und eine unglaublich weiche Zärtlichkeit, die ganz tief unter die Haut geht. Höhepunkt dieser Zärtlichkeit ist der Einsatz der Bariton Oboe, gespielt von Eric Sheng-Chung Cheng, im 2. Satz. Es ist fast so, als ob man in einem Wolkenschloss liegt und die weichen Wolken einen immer wieder kitzeln. Leider musste durch die fehlende Bühnentechnik der Klang im gesamten Konzert Klang eingebüßt werden. Manchmal kommt das Gefühl auf, dass der Klang in der Weite der Bühne verloren geht. Was aber am meisten auffällt, dass die Bläser zeitweise sehr dumpf waren, hoffentlich aber “nur” weil sie nicht wie gewohnt über den Streichern sitzen und ihren Klang in den Raum spielen können. Zeitweise kommt das Gefühl auf, dass sich die Melodien der Bläser erst einen Weg durch die Schar der Streicher bahnen müssen. Trotzdem kann gesagt werden, dass dieser leisere und etwas dumpfe Klang der Bläser bei Dvořáks 9. Sinfonie überhaupt nicht negativ wahrgenommen werden muss. Im Gegenteil, es hat eine Ferne aufgebaut, die man durchaus als die Entfernung des Geheimnisvollen und Neuen der “Neuen Welt” – Amerika – sehen kann. Es wurde also ungewollt eine neue klangliche Dimension geschaffen.

Die Sinfoniekonzerte des Theater Münster sind, muss man wirklich sagen, immer sehr gut gelungen. Das Ensemble hat ein großartiges Niveau und harmoniert sehr schön mit seinem musikalischen Leiter Golo Berg. Fans des Epochen-Mixes kommen auf ihre Kosten, da eigentlich immer mindesten ein*e Komponist*in gespielt wird, der/die den meisten Leuten kein Begriff ist, man kann also wunderbar sein Repertoire erweitern. Damit aber nicht alles neu ist, gibt es immer einen Banger am Schluss. In diesem Konzert gab es sogar zwei eher unbekannte Komponisten mit Boris Blacher und Hugo Distler. Wer jetzt nur wegen Antonín Dvořáks Sinfonie Nr. 9 in dieses Konzert gegangen ist, kann allein deswegen schon zufrieden nach Hause gehen und zusätzlich konnten noch 2 sehr interessante neue Komponisten in die altbekannte “Klassik Playlist” aufgenommen werden.