Vielleicht ein kleines bisschen zu viel…

Während draußen vor dem Opernhaus sich mit blauem Himmel und warmen Temperaturen der Spätsommer bemerkbar macht, schneit es am Dortmunder Theaterhimmel. Jens Kilian und Mara Lena Schönborn haben ein Bühnenbild über den Dächern von Paris entworfen, das allerhöchsten Ansprüchen genügt, und das Auge in das Geschehen hineinzieht. Auf den ersten Blick wird deutlich: Das Regieteam um Gil Mehmert möchte die Zuschauenden und das Werk ernst nehmen und sie in die Welt der Bohemiens entführen; es möchte, dass das Publikum sich in die Oper hineinfühlen kann. Freilich ist der kleine Glaskasten auf dem Dach, der als Mansarde dient, doch sehr karg, aber die vielen Details, zum Beispiel die Dachfirste, sind wundervoll. Als Tisch kann lediglich eine umgekippte Badewanne genutzt werden und ein Bett ist nirgends zu sehen. Ein in der Ecke stehendes Skelett ist mehr als nur ein Garderobenständer, sondern steht symbolhaft dem Enthusiasmus der Bohemiens mahnend entgegen. Für den zweiten Akt wird dann die Bühnentechnik ausgenutzt, wenn das Cafe Momus unter einem Weihnachtsmarkt im Quartier Latin nach oben gefahren wird. Mehmerts Personenregie ist hier sehr konzentriert, wenn er die Chormassen einfrieren lässt, und immer passend zu ihren Einsätzen wieder in Aktion treten lässt.

An dieser Stelle sei direkt das Wichtigste erwähnt: Die verschachtelte Musik wird on point dargeboten und der von Fabio Mancini einstudierte Chorapperat geht voran. Der OpernKinderchor und der Knabenchor der Chorakademie Dortmund (Einstudierung: Elisabeth Strake und Jost Salm) sind an Präzision, Selbstbewusstsein und Attacke kaum zu überbieten und mischen sich bestens in den Ensembleklang. Angesichts der vielen Personen kann sich Falk Bauer bei den Kostümen so richtig austoben. Mimis hellblaues Kleid ist ebenso eine Augenweide wie Musettas Ausgehgarderobe, die sie nach und nach ablegt. Błażej Grek holt sich mit den zwei Sätzen des Parpignol die gesamte Aufmerksamkeit und Hiroyuki Inoue spielt die Rolle des Alcindoro genussvoll aus. Bevor der Akt schwungvoll mit dem Zapfenstreich beendet wird, treibt Dirigent Gabriel Feltz Ensemble und Orchester am Ende der Verführungsszene in eine Fermate, deren Wucht und Volumen an manchen Opernhäusern für frenetischen Zwischenapplaus gesorgt hätte. So weit ist es in Dortmund noch nicht, aber schon zur Pause wird deutlich, dass das Publikum diese Bohème lieben wird.

Auch im dritten Akt wird die Bühne wieder mehrstöckig genutzt. Direkt vor dem Orchestergraben führt der Weg an einem Lokal bei der Grenzstation „Barriere d’enfer“ vorbei. Auch hier erfreuen wieder die kleinen Details, die Mehmert dem Ensemble mitgibt. Während die Zöllner die vorbeigehenden Menschen kontrollieren, gelingt es manchen dennoch, Essen und Trinken in das Lokal zu schmuggeln. Währenddessen geht der Maler Marcello auf dem Dach seiner Arbeit nach. Die folgende Unterhaltung mit der todkranken Mimi verliert aber dadurch an Glaubwürdigkeit, da sich die beiden Personen vom Gehweg zum Dach hinauf ansingen müssen. Im vierten Akt nimmt Mehmert dann der herzergreifenden Musik etwas die Intensität, wenn Mimi ihr Leben wie es zu befürchten war ihr Leben in der Badewanne aushauchen und ihr Freund Rudolfo seine Verzweiflung von den Dachfirsten in die Weite Paris‘ hinausrufen muss. Das ist dann vielleicht ein ganz bisschen zu viel des Guten.

Ein ganz bisschen zu viel gibt auch manchmal GMD Gabriel Feltz, der einige Phasen ein wenig zu breit ausmusizieren und manches Forte zu laut werden lässt. Denn so schön das Bühnenbild auch ist, hat es gerade im ersten und vierten Akt den Nachteil, dass die Stimmen oft weit hinten oder im offenen Bühnenraum positioniert sind. Dadurch werden die Sänger*innen oft vom Orchester ein wenig überdeckt. Der Unterschied, wenn die Sänger vorne an der Rampe singen, ist deutlich zu hören. Kaum nennenswerte Probleme mit diesem Handicap hat Mandla Mndebele, dessen Bariton aus Erz zu sein scheint. Sein genussvoll ausgesungener Marcello genügt höchsten Ansprüchen. Anna Sohns lyrisch schwebender Sopran verfügt über alle Vorzüge, die eine Mimi mit sich bringen muss, um sich auf dem reichhaltig gefüllten Markt der lyrischen Sopranstimmen nachhaltig in Erinnerung singen zu können. Rinnat Moriah, eine freche, agile Musetta, hat mit den Klangfluten des Orchesters einige Probleme. Auch Sungho Kim muss als Rodolfo sein schönes, fast schon adliges Tenormaterial mitunter etwas unter Druck setzen. Dabei sollte diese wunderbare Stimme unterstützt in jedem Takt werden, so dass der Tenor noch lange solche Vorstellungen wie diese singen kann. Morgan Moody und Denis Velev sind als Schaunard und Colline zwei exzellente Nebendarsteller, die nie im Ensemble untergehen. Ian Sidden ist nur des Librettos wegen ein den Bohemiens unterlegener Vermieter Benoît.

Die Dortmunder Philharmoniker baden hörbar in diesem breiten Musikfluss, den Gabriel Feltz vorgibt und spielen jedes Detail, jedes Piano mit Lust und Liebe aus. Die Synergie mit der Szene wird vom Publikum begeistert aufgenommen und die Premiere lautstark gefeiert. Die Produktion ist auch aus dem Grund empfehlenswert, weil sie auch für einen Familienbesuch mit jüngeren Opernhörer*innen bedenkenlos genutzt werden kann. Ebenfalls bemerkenswert: Das an La Bohème orientierte Musical Rent von Jonathan Larson wird ab Ende September am Opernhaus Dortmund aufgeführt. Für zwei Vorstellungen am 15. Oktober und am 10. Dezember gib es Kombi-Tickets.